Im Gespräch mit Jue Salomo
In einem Interview, dass Sie 2006 gaben, sagten Sie: „Die Kontemplation stellt die höchste und würdigste Lebensform dar, so wie die Betrachtung der Welt das Größte ist, was das Leben zu bieten hat. Für mich ist Kontemplation auch eine Form des Handelns. Betrachten bedeutet ja nicht nur, das Schauspiel der Dinge passiv hinzunehmen, sondern die Untersuchung der Realität, die sich nicht sogleich und von selbst erschließt.“
Wir wollen uns heute über Paris unterhalten. Wie erfahren Sie Kontemplation in Paris? Vertieft und auf eine nachhaltige Art und Weise.
Können Sie das näher beschreiben?
Ich möchte vorab bemerken, dass Sprache unzureichend ist, um metaphysische Erfahrungen oder spirituelles Sehen zu beschreiben. Sinnbildlich ist es ein Augenblick, in dem die Masken des rationalistischen Seins einschmelzen. Alles korrespondiert miteinander. Eine Verdichtung, Vertiefung und Erweiterung des Lebens. Tiefe und Oberfläche der Dinge werden gleichzeitig sichtbar.
Die Gegenwart als Mysterium?
Ja, alles erscheint wie ein Pulsieren und Weben, in das wir eingebunden sind. In Paris hatte ich Gelegenheit, von Augenblicken dieser Art berührt zu sein, Einblick zu erhalten und ohne Schleier sehen zu dürfen.
Wie wirkt sich diese Erfahrung auf Ihre Arbeit aus?
Man kann nicht daran zweifeln, dass jede Ästhetik auf eine Metaphysik verweist. Grenzerfahrungen mit den Mitteln der bildenden Kunst wiedergeben zu wollen ist aber, wenn überhaupt, nur beschränkt möglich. Ich habe mich nicht bewusst darum bemüht. Die Wahrheit liegt jenseits der Kultur. Andererseits kann das Erlebnis von Kunst dazu beitragen, dass sich der Schleier der Maya hebt. Ich möchte aber weder Sprecher noch Interpret meines Werkes sein.
Was meinen Sie mit Schleier der Maya?
Das ist ein Terminus aus der indisch/brahmanischen Philosophie und bezeichnet die als Trugbild angesehene Erscheinungswelt, die sich als verschleierte Schönheit darstellt. Es heißt, wenn sich der Schleier der Maya¹ hebt, herrscht eine andere Dimension des Verstehens.
Und wie ist diesem Trugbild zu entkommen? Indem wir das Paradox lösen und erkennen, dass das Äußere ein Inneres ist.
Wir sind in unserem Alltag oft nicht mehr bereit, uns auf spirituelle Erkenntnisse einzulassen …
…weil wir verlernt haben, uns auf Momente einzulassen und sie zu erleben. Zum Beispiel die Erfahrung des absoluten Augenblicks in der Großstadtmenge, in dem sich Alltägliches und metaphysische Tiefe vereinigen können. Baudelaire hat das wunderbar beschrieben, wenn die Differenz zwischen Flaneur und erblickter Menge zusammenbricht.
Fällt es Ihnen im Paris leichter, sich auf Momente des Augenblicks ein zu lassen?
Ja, hier verspüre ich eine Steigerung der Wahrnehmungsintensität. Sinnliche und ästhetische Wahrnehmungen, die aus dem Kontinuum des alltäglichen Lebens insulär heraustreten. Wenn ich in Paris bin, ist das für mich auch immer eine Reise ins Innere des Geistes. Die Zeugnisse vergangener Zeiten sind in Paris noch lebendig. Wir werden überall an die Vergangenheit erinnert. Geschichte offenbart sich an jeder Straßenecke und jeder Brücke, die wir überqueren. Durch die Straßen von Paris wandern ist wie in einem Buch lesen. Belebt von Gestalten aus den Archiven meines Erinnerns. Die Straßen, das Stadtbild, Erinnerungen, Personen, ihre Geschichte, Konstellationen, Zeit- und Echoräume bündeln sich wie in einem Brennglas. Alles Gelesene wird zur Möglichkeit, es imaginär in erinnerte Wirklichkeit zu verwandeln. Ich erlebe Paris dann wie ein Palimpsest2 der sich vielfälltig überlagernden Schichten.
In Ihrem Werk nimmt Paris eine zentrale Rolle ein. Wie kam es dazu – pourquoi Paris?
Pourquoi pas? Paris ist wie ein Traum von großer Eindringlichkeit. Die unerkennbare und erfahrbare Welt des Seienden, das was wir die intellegible Welt nennen, war mir hier vital präsent.
Ihre Bilder von Paris zeigen die Stadt fernab der Weltstadthektik. Keine Verkehrsmittel und nur selten, und dann auch nur vereinzelt, Passanten. Straßen und Plätze sind meistens menschenleer. Es hat den Anschein, dass Sie die Zeichen der Moderne aus Ihren Bildern ausblenden wollen.
Die Welt kann immer auch ganz anders aussehen, als wir sie gemeinhin wahrnehmen. Ich erfahre mehr über die Stadt, wenn ich meine Motive wie in einer Langzeitbelichtung fixiere und von der Beschleunigung löse. Geschwindigkeit vernichtet den Raum.
Das Poem einer »Ewigen Stadt« ?
Ja, auch. Wenn ich Paris porträtiere, sehe ich in der Stadtlandschaft ihre Physiognomie als Kapitale, jenseits des Ruhms und der Drangsale des Lebens. Konzentriert auf ihre Schönheit. Und wenn Augenblicken »Zeitloses« entspringt, erfahre ich Paris, befreit von der Bewegungsraserei, als Impression. Es bedarf aber einer besonderen Sphäre, um vom fugitif der Wahrnehmung zum éternel des Augenblicks zu gelangen.
Wie gelingt das in einer Metropole mit hohem Lebenstempo?
Es gelingt ja nicht immer. Aber, so wie ich einen ästhetischen Anspruch habe, weiß ich auch, dass Entschleunigung diesem Ziel zugute kommt. Und: Paris ist nicht nur Lebenstempo sondern auch ein mythischer, magischer und fruchtbarer, nicht nur steinerner, Inspirations- und Assoziationsraum mit Vergangenheit und erfahrungsgesättigter Hintergrundstrahlung mit Sinn für Entschleunigung und Ästhetik.
Die Aura von Paris hat sich gewandelt. Das Paris von heute wird zum Objekt. Großprojekte haben die Stadt verändert. Profit und Kommerz tragen dazu bei. Man flüchtet sich ins Alte vor den Zumutungen des Neuen. Ist der Zauber von Paris nur noch Mythos?
Tja, eine Epoche geht zu Ende. Auch Paris hängt am Seil eines ungewissen Schicksals. Aber: Was heute nach Untergang aussieht, kann morgen schon zum Aufbruch werden. Die Trümmer dieser Welt sind immer auch Bausteine.